Familienbande by Michael Degen
Autor:Michael Degen [Degen, Michael]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783644108813
Herausgeber: Rowohlt Digitalbuch
veröffentlicht: 2015-05-03T16:00:00+00:00
Paris
Bibis Vermieter, die Eheleute Lapin, hatten einen großzügigen Empfang vorbereitet. Nahezu alles, was die französische Küche an Vorspeisen zu bieten hatte, war aufgetischt worden. Auch die Vielfältigkeit des Desserts ließ nichts zu wünschen übrig. Eine Hauptmahlzeit jedoch fiel aus. Man schummelte sich mit ordentlichem französischen Wein über die scheuen Momente des ersten Kennenlernens hinweg.
Menachem Rosemunde hatte Bibi am Gare du Nord erwartet, ihn in die Rue d’Amsterdam begleitet, und nun saßen sie mit den alten Herrschaften im pseudo-antik eingerichteten Wohnzimmer und kamen rasch auf die politische Lage in Europa zu sprechen. Vor allem schienen die alten Leute sehr irritiert über die helle Begeisterung der Österreicher zu sein, die dem deutschen Kanzler so ausgiebig zujubelten und deren «Heim ins Reich»-Rufe in der gesamten Weltpresse als Balkenüberschrift erschienen waren. Was denn das schwarze Kreuz auf weißem Rund in den roten Fahnen bedeute, wurde Bibi gefragt. Rosemunde, der die Frage übersetzte, gab auch gleich die Antwort. Es sei angeblich ein altgermanisches Zeichen, das man zum Emblem für den deutschnationalen Staat erkoren habe. In Wahrheit sei dieses Hakenkreuz jedoch schon im alten Indien aufgetaucht. Es wirke beängstigend aggressiv, meinten die Lapins. Weshalb man denn nicht bei den schwarz-rot-goldenen Streifen geblieben wäre? Das sei doch eine Flagge gewesen, die weitaus mehr Vertrauen eingeflößt hätte.
Rosemunde klärte sie darüber auf, dass den gegenwärtigen Machthabern daran wohl nicht allzu sehr gelegen sei. Man könne sich nur wünschen, dass mit der Einverleibung Österreichs der Appetit der Herren in Deutschland gestillt sei.
«Das hoffen wir ebenfalls», meinten die Lapins. «Wir haben unseren einzigen Sohn im letzten Krieg verloren. Gleich zu Beginn. An der belgischen Grenze. Es wäre furchtbar, wenn jetzt unser Enkel ein ähnliches Schicksal erlitte.»
Bibi ließ es sich wörtlich übersetzen und versuchte, sein tiefes Bedauern in sehr ungeschicktem Französisch auszudrücken, wobei er die Peinlichkeit seiner Wortwahl fühlte. Das Schweigen Rosemundes schien einen besseren Eindruck zu machen.
Bibi begleitete den Freund noch ein Stück die Rue d’Amsterdam hinunter und ließ sich von ihm erklären, dass er und seine Familie ebenfalls in diesem Arrondissement wohnten. Jetzt solle Bibi aber umkehren, sonst fände er womöglich nicht mehr den Weg zurück. Morgen sei er zum Abendessen bei den Rosemundes eingeladen, und sie wären schon sehr gespannt auf die neuesten Nachrichten aus Zürich – und auf ihn.
«Wegen meines Familiennamens?», fragte Bibi.
«Wegen deiner Züricher Eskapaden», gab Rosemunde zurück.
Am nächsten Morgen suchte Bibi Monsieur Galamian auf, dessen Adresse er beim Abschied in der Schiedhaldenstraße von Mielein zugesteckt bekommen hatte. «Sie haben entschieden Talent», äußerte dieser, nachdem Bibi ihm ein Stück auf der Viola vorgespielt hatte. «Ihre Finger haben die nötige Muskulatur für dieses Instrument, und es wäre interessant, sie einmal auf der d’Amore etwas von Vivaldi spielen zu hören.»
«Ich bin aber auch in der Lage, Ihnen etwas auf einer ganz gewöhnlichen Violine vorzutragen», erwiderte Bibi leicht angesäuert und nahm ohne sichtbares Erstaunen zur Kenntnis, dass der Musikpädagoge das Deutsche fast akzentfrei beherrschte.
«Bitte sehr», forderte Galamian ihn auf und zeigte auf den zweiten, noch ungeöffneten Kasten, den er zu Anfang auf dem Boden abgestellt hatte. Bibi öffnete ihn, hob eine Geige mittlerer Qualität ans Kinn und begann sie in aller Ruhe zu stimmen.
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